Weihnachtserinnerung

Ich war 4 oder 5 Jahre alt. Meine Mutter und mein Großvater wohnten mit mir in einer Vier-Zimmer-Wohnung in einem dreistöckigen Haus am Rande Wuppertals. Mein Vater war in russischer Gefangenschaft, aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Mutter das zu dieser Zeit schon wusste, denn er durfte anfangs nicht schreiben. (In dem Haus wohnten 5 junge Frauen, von denen mindestens 3 auf ihren Mann oder Verlobten warteten. Mein Vater war der einzige, der nach Jahren zurückkam.) Ein Zimmer unserer Wohnung war an eine Flüchtlingsfrau untervermietet. Das tägliche Leben spielte sich in der geräumigen Küche ab, denn das Wohnzimmer diente meinem Opa als Schlafzimmer und nur die Küche wurde von einem großen Herd mit langem Ofenrohr geheizt.

0bwohl die Stadt im Krieg schwer zerstört worden war, gab es in unserer Gegend keine Kriegsschäden. Aber wir hatten wenig zu essen. Meine Mutter war vor kurzem mit ihrer Freundin wieder einmal "hamstern" gewesen, obwohl es schon Dezember war. "Hamstern" bedeutete, bei Bauern Wäsche, kleine Haushaltsgegenstände, selbstgemachtes oder aus früherer Zeit noch vorhandenes Spielzeug und dergleichen gegen Essen einzutauschen. Meine Mutter nähte dazu hübsche Puppenkleidchen, die sie ihren alten Puppen anzog, um sie dann gegen Lebensmittel (Getreide, Hülsenfrüchte, Kartoffel, Brot, Eier) zu tauschen. Mein Großvater bastelte Küchengeräte, die es nicht zu kaufen gab und gerne eingetauscht wurden. Zum Hamstern fuhr meine Mutter immer nach Osten ins Westfälische, denn in der Nähe wurden die Bauern überlaufen und konnten deshalb nur wenigen etwas eintauschen. Wenn sie zurückkam, soll ich schon an der Türe gefragt haben: "Mama hast Du Brot?"

Es war auf dem Rückweg aus Westfalen, als sie im großen Arnsberger Wald von einem LKW mitgenommen wurden. Der Fahrer war sehr freundlich, und als sie an einer Stelle vorüberkamen, an der kleine Fichten geschlagen wurden, hielt er kurzer Hand an, erhandelte 4 Fichten und schenkte den beiden Frauen je ein Bäumchen für Weihnachten, dazu ein drittes mit der Bitte, es einer befreundeten Familie in Wuppertal zu bringen. So kamen wir zu einem richtigen Weihnachtsbaum, etwas ganz Besonderes in dieser Zeit. Die Christbaumkerzen hat wohl mein Großvater selbst gegossen, vermutlich aus Stummeln von Haushaltskerzen, die gesammelt wurden.

Zur Bescherung saßen wir also zu dritt vor einem kleinen Weihnachtsbaum mit richtigen Kerzen auf einer alten Truhe, darunter stand eine aus Ästchen und Rinde selbstgebastelte Krippe mit Strohdach. Daneben stand wohl ein Teller mit selbstgemachtem Spritzgebäck und ausgestanzten Plätzchen und vielleicht waren da auch noch wenige Äpfel und Haselnüsse, anderes Obst gab es nicht. Bei den kleinen Geschenken handelte es sich meist um "Anziehsachen" wie Socken und dergleichen, die mich wenig interessierten, aber eines ist mir ganz tief in Erinnerung geblieben: Ein Spielzeugauto zum Aufziehen. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und erst recht nicht besessen. Es war ein Opel mit quaderförmigem Aufbau, grün gestrichen und mit einem deutlich sichtbaren, fest montierten Schlüssel. Die Vorderachse war verstellbar, zum Geradeausfahren oder für eine Kreisbahn. Die Hinterachse wurde bei aufgezogener Feder angetrieben. Man musste die Hinterräder solange festhalten, bis das Auto in der richtigen Position stand, und dann sauste es durch die Küche. Ich war begeistert! Wieder und wieder ließ ich das Auto fahren, und meine Mutter und mein Opa waren hoch erfreut, dass sie mir in dieser schlechten Zeit mit dem kleinen Auto so viel Freude machen konnten.

Das Auto existiert noch heute, irgendwo in unserer Rumpelkammer! Ich habe es immer gehütet, weil sich so schöne Erinnerungen damit verbinden. Heute ist mir klar: Nicht die Größe der Geschenke bestimmt die Größe der Freude, sondern einerseits die Liebe, die dahinter steht, und andererseits die Begeisterungsfähigkeit, die um so größer ist, je weniger man besitzt und je weniger man mit einem Ereignis rechnet.

G. A. Langenbruch