Wort für den Monat Juni 2003

Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer;
aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott. (Sprüche 14,31)

In der Schöpfungsgeschichte lesen wir: "Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde." Dass Jesus oder wenigstens ein Nobelpreisträger, Spitzensportler, Superstar ein Ebenbild Gottes ist, möchte ich gern glauben. Oder die heilige Elisabeth oder Albert Schweitzer oder Mutter Theresa. Aber ich und du? Kaum vorstellbar. Osama bin Laden, Saddam Hussein, Adolf Hitler und der Kindermörder NN auch? Auch die verwahrloste Frau in der Schlichtwohnung? Auch der besoffene Penner in der Fußgängerzone?
Jeder Mensch trägt das Ebenbild Gottes in seiner Seele, egal, was er aus sich selbst und andere aus ihm gemacht haben. Das ist wie ein Ausweis, auf dem nicht unser Photo, sondern das von Jesus eingeklebt ist, auf dem nicht unser Name, sondern Gottes Name steht. Du, Mensch, bist wie Gott. Mach was aus dir und mach deinem Schöpfer keine Schande!
Bei der Taufe machen wir uns das klar: Du, Christ, bist ein Kind Gottes. Du trägst nicht mehr deinen Familiennamen, sondern den von Jesus. Christus ist dein Bruder, also blamiere deine Familie nicht.

Die Monatslosung aus den Sprüchen betrachtet das "Bild Gottes" aus einem anderen Blickwinkel: Wir machen unserem Schöpfer Ehre und erweisen uns seiner Familie als würdig, wenn wir in jedem Menschen das Bild Gottes erkennen und anerkennen, nicht nur in denen, die unsere Bewunderung und Achtung erregen, sondern auch in den "Geringen" und "Armen".
Auch der Taugenichts, der Versager, der Verbrecher hat seine Menschenwürde und kann sie nicht verlieren. Ach was, was schreibe ich da? Auch die wir verachten, tragen das Bild Gottes in sich.

Das muss Konsequenzen für unser Tun haben. Ich weiß zwar immer noch nicht, wie man Pennern wirklich helfen und Verbrecher resozialisieren kann. Es ist so leicht gesagt: "Man muss den Armen helfen." Wie oft habe ich "Nein" gesagt, weil ich merkte, dass mich jemand ausnutzen wollte! Und wie oft habe ich mich sehenden Auges ausnutzen lassen! Wie viel Geld habe ich ausgegeben, weil jemand behauptet hat, er sei in einer Notlage? Habe ich wirklich geholfen oder nur mein Gewissen beruhigt und den Bittsteller mit ein paar Scheinen abgewimmelt? Ich weiß immer noch nicht, was richtig ist und wie ich wirksam helfen kann.
Es ist zum Glück auch nicht so, dass jeder von Bettlern belästigt wird und sich überlegen muss, wie er wirklich helfen kann. Das ist mehr eine Sache von Profis, und die haben dafür ihre Kassen.
Aber jeder von uns ist gefragt, wie wir mit Menschen umgehen, die uns unterlegen sind. Das sind ja nicht nur die Armen und "Asozialen", sondern alle, die weniger können, weniger haben und weniger dürfen als wir. Das betrifft auch Kinder, Behinderte, unsere Untergebenen usw. Erkennen und achten wir auch im Kleinsten, Ärmsten und Schwächsten das Ebenbild Gottes?

Ich möchte von meinem großen Bruder Jesus lernen, der die Menschen wirklich mit den Augen Gottes betrachtet und geliebt hat. Und ich hoffe, man merkt auch was davon.

Heinrich Tischner