Wort für den Monat Dezember 2003

Gott spricht: Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. (Jesaja 43,19)

Liebe Leserin, lieber Leser!

Viele Christen sind damit beschäftigt, ihren Glauben zu erhalten. Das ist sinnvoll und lobenswert, weil unser Glaube ja dadurch gefährdet wird, dass andere anders oder gar nicht glauben. Und wenn wir nicht darauf achten, dass unser Glaube immer wieder neu gestärkt wird, dann verlieren wir ihn. Glaube aber ist kein Besitzstand, den wir hüten und verteidigen können, sondern eine Tätigkeit. Er lebt davon, dass wir ihn praktizieren, dass wir nicht nur glauben, sondern auch hoffen und lieben. Er ist nichts Starres, sondern muss immer in Bewegung bleiben – und wachsen. Wer damit beschäftigt ist, seinen Glauben nur zu erhalten, ist in Gefahr, ihn zu verlieren. Ein Glaube, der nicht wächst, schläft ein und stirbt ab.

Vor lauter Besitzstandswahrung vergessen wir leicht, dass das Evangelium keine "Lehre" ist, die für alle Zeiten gilt, sondern eine Botschaft, die Neues bringt, verkrustete Strukturen aufbricht und sogar Unruhe schafft. Gestern Abend hatten wir mit ein paar Leuten vom CVJM den amerikanischen Lutherfilm angesehen. Der spielt in einer Zeit, in der das Evangelium tatsächlich als bahnbrechende Botschaft verstanden wurde: Es fing bei einem Menschen an, griff auf andere über, veränderte sie, rief Unruhe, Tumulte, Kriege hervor – und erstarrte nach einigen Jahrzehnten in toter Rechthaberei und "Besitzstandswahrung".

Auch unser Monatsspruch redet vom Neuen, das Gott schaffen will. Konkret geht's um das Ende der Babylonischen Gefangenschaft. Ein ganzes Volk war in ein fremdes Land umgesiedelt worden, in der Hoffnung, dass es sich dort anpasst und damit untergeht. Die verschleppten Judäer passten sich aber nicht an, sondern hielten zäh an ihren überlieferten Glaubensvorstellungen und Bräuchen fest. Dinge, die ihnen vorher überhaupt nicht wichtig waren, wie Glaube an nur einen Gott, der nicht in Bildern dargestellt und an einem besonderen Tag in der Woche geehrt wird, bekamen eine ganz neue Bedeutung. Die Gelehrten begannen, alte Traditionen zu sammeln, neu zu deuten und aufzuschreiben – heute im Alten Testament erhalten. Das Exil war eine Zeit geistlicher Erneuerung, eine Art Reformation.

Und dann trat eines Tages ein Prophet auf, dessen Name wir nicht kennen und den wir Deuterojesaja nennen, den "zweiten Jesaja", weil seine Worte im zweiten Teil des Jesajabuchs erhalten sind. Er kündigte mit dem Monatsspruch "Neues" an, von Gott bewirkt und schon im Werden: konkret: das Ende des Exils, Weg und Wasser in der Wüste, die die Judäer von der Heimat trennte.

Der persische König Kyros fing gerade an, sich ein Weltreich zusammen zu erobern. Er werde, so der Prophet, das auserwählte Werkzeug Gottes sein, mit dem er ein Volk befreien wird. Tatsächlich besetzte der Perser Babylon und erlaubte den Judäern die Rückkehr und den Wiederaufbau der zerstören Heimat.

Als ich diesen Monatsspruch las, fiel mir natürlich sofort dieser König Kyros und die Erlaubnis zur Rückkehr ein. Daran hat der Prophet mit diesem Spruch wahrscheinlich gedacht. Aber ist das nicht zu kurz gegriffen? Wäre ein Wiederaufbau, ja ein Überleben in der Fremde ohne diese geistliche Erneuerung und Reformation überhaupt möglich gewesen? Das Neue fing doch damit an, dass sich die gefangenen Judäer auf das Alte besannen, genauso wie die Reformation damit anfing, dass sich Martin Luther auf das Alte besann.

Wenn du, liebe Leserin und lieber Leser, diese Andacht liest, wird inzwischen Dezember und Advent sein. Bei dem "Neuen", das Gott schaffen wird, müssen wir in dieser Zeit vor allem an Jesus denken, den "Reformator" vor 2000 Jahren. Auch er schuf Neues dadurch, dass er sich auf das Alte besann: In einer Zeit, in der man das Wort Gottes in Tausende einzelner Paragraphen zerpflückte, fand Jesus einen neuen Weg, indem er sich auf das Alte, den ursprünglichen Willen Gottes besann: "Liebe Gott und sei lieb zu deinem Mitmenschen".

Aber das ist nicht alles, was sich über Jesus sagen lässt. Er verstand sich selbst als "Kind Gottes", zu einem neuen Menschen geworden durch die Taufe. Ja noch mehr, wir sehen in ihm den Prototypen des neuen Menschen, von Gott neu erschaffen wie seinerzeit Adam und Eva. Jesus konnte Neues bringen, weil er das mit der Umkehr und Erneuerung ganz ernst genommen hatte.

Leider haben wir aus Jesus eine Symbolfigur gemacht, die stellvertretend für uns umgekehrt und zu einem neuen Menschen geworden ist. Und dabei hat Jesus uns nicht aufgefordert, ihn als ein einmaliges Wunder anzubeten, sondern ihm nachzufolgen und selbst neue Menschen zu werden.

Paulus hat das noch gewusst, wenn er schreibt: "Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen. Siehe Neues ist geworden." (2. Kor. 5,17).

Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine geistliche Erneuerung in unserem Land, in unsrer Kirche, auch in unserem CVJM – und vor allem bei dir, liebe Leserin und lieber Leser

Herzlichst

Heinrich Tischner