Wort für den Monat März 2004

Der Herr, unser Gott, sei mit uns, wie er mit unseren Vätern war. Er verlasse uns nicht und verstoße uns nicht. (1. Könige 8,57)

Liebe Leserin, lieber Leser,

der König Salomo hat einen neuen Tempel bauen lassen und weiht ihn in höchsteigener Person ein. Der Monatsspruch stammt aus Salomos Weihegebet. Er bittet darum, dass Gott sein Volk auch künftig nicht im Stich lässt.

Das war vor dreitausend Jahren. Wir fragen uns heute, was aus dieser Bitte geworden ist. War Gott immer mit Israel, hat er sein Volk weder verlassen noch verstoßen? Wenn wir die Bibel weiter lesen und auch die nachbiblische Geschichte bedenken, kommen uns Zweifel: Wenige Jahrzehnte später zerbrach Israel in zwei Staaten, Nord und Süd (so wie früher West- und Ostdeutschland, heute noch Nord- und Süd-Korea). 300 Jahre später waren beide Staatswesen zerschlagen, der Tempel in Jerusalem zerstört, die Juden entweder in den Irak deportiert oder nach Ägypten geflüchtet (wie 1945 bei uns und heute in vielen anderen Ländern). 1000 Jahre später: wieder Tempelzerstörung und Vertreibung. 1000 Jahre später: systematische Judenverfolgungen in Westeuropa, Vertreibung nach Osteuropa. 1000 Jahre später: Systematische Judenvernichtung durch unsere Väter, Holocaust, Auschwitz.

Viele haben sich vor 50 Jahren gefragt: Kann man nach Auschwitz und so einer Leidensgeschichte noch an Gott glauben? Wo war denn Gott, um dessen Beistand und Hilfe Salomo gebetet hatte?

Während der Babylonischen Gefangenschaft fanden die verschleppten Juden eine Antwort: Die Katastrophe war die gerechte Strafe für die Sünden der Vergangenheit. Das ist eine Antwort, die wir nur selbst finden können. Genauso haben unsere Väter 1945 bekannt: "Wir haben versagt und betrachten den Zusammenbruch als gerechte Strafe."

Es ist aber unrecht und lieblos, fremden Menschen zu sagen: "Du bist an deinem Unglück selbst schuld." Das haben unsere Väter den Juden immer wieder vorgeworfen: "Ihr seid an eurem Unglück selbst schuld, ihr habt schließlich Jesus gekreuzigt." Genauer gesagt: Unsere Väter nahmen diesen Vorwurf zum Anlass für Judenverfolgungen.

Ich frage nochmals: Kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?

Ich kann nur für uns Christen und nicht für die Juden sprechen. Meine Antwort: Als Christ kann man. Denn wir können ja auch nach Golgatha und trotz Golgatha und gerade wegen Golgatha noch an Gott glauben. Nicht weil alles nur halb so schlimm war und Jesus ja schließlich glorreich von den Toten auferstanden ist. Sondern weil Jesus erfahren durfte: Gott lässt mich auch im tiefsten Elend nicht allein. Gerade da ist er mit besonders nahe. Er hilft mir durch. Er begleitet mich auch durch das finstre Tal des Todes (Psalm 23).

Aber hat er nicht kurz vorm Sterben geschrieen "Mein Gott, warum hast du mich verlassen"? Hat er. Aber das war kein Schrei der Verzweiflung, sondern Jesus hat angefangen, den 22. Psalm zu beten, das Gebet eines Leidenden, der sich aus Verzweiflung durchringt zum Gottvertrauen. Lies mal die beiden Psalmen im Zusammenhang, da wirst du sehen, was Jesus wirklich gemeint hat.

Die Monatssprüche sehen oft aus wie Mutmachsprüche: "Kopf hoch, es geht schon weiter, der liebe Gott wird dir helfen." Kein Wunder, dass viele Menschen nach Auschwitz oder einer persönlichen Katastrophe sagen: "Gott hat nicht geholfen, mein Glaube hat nichts genützt, also weg damit."

Meine Erfahrung ist ganz anders: Gott lässt uns manchmal scheinbar hängen, wie er Jesus hängen gelassen hat. Er tut scheinbar nichts und hilft scheinbar nicht. Aber gerade, wenn mir's am dreckigsten ging, durfte ich spüren: Gott war mir da viel näher, als wenn mir's gut ging. Er hat mich im tiefsten Loch nicht allein gelassen und wird mich auch im "finstern Tal" des Todes nicht allein lassen. Woher ich das weiß? Weil Jesus überall schon gewesen ist. Es ist ihm noch viel dreckiger gegangen und er musste noch viel Schlimmeres ertragen.

Übrigens: Wenn ich behaupten würde, Gott würde nie helfen, täte ich ihm Unrecht. Er hilft oft, aber nicht immer. Als Kind habe ich den Spruch gelernt: "Hilft er nicht zu jeder Frist, hilft er doch, wenn's nötig ist."

Der Herr sei mit euch,

euer Heinrich Tischner