Wort für den Monat Oktober 2004

Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. (2. Korinther 3,17)

Liebe Leserin, lieber Leser,

nehmen wir eigentlich die Bibel noch ernst? Diese Frage mussten wir uns vor zwei Jahren wieder neu stellen, als eine heftige Diskussion über die so genannten "Homo-Ehen" entbrannt war. Viele Christen beriefen sich auf Bibelstellen, wonach homosexuelles Verhalten Gott ein Gräuel sei (Altes Testament) und dass Menschen, die solches tun, keinen Anteil am Reich Gottes hätten (Neues Testament). Anlass für die Diskussion: Unsere Landeskirche hat beschlossen, dass homosexuelle Menschen in der Kirche nicht benachteiligt werden dürfen und dass es den Gemeinden und Pfarrern freigestellt ist, einer standesamtlichen Homo-Ehe auch den kirchlichen Segen zu geben.

Die Reaktionen zeigten, wie schwer wir uns als nicht Betroffene tun, Homosexualität zu verstehen: Die einen entrüsten sich mit den unflätigsten Ausdrücken – für andere ist Homosexualität eine heilbare Krankheit oder eine mögliche Art zu leben. Nur wenige scheinen wirklich verstanden zu haben, was Homosexualität ist. Ich will darauf weiter nicht eingehen, denn ich weiß selbst auch nur wenig.

Bei diesen Auseinandersetzungen wurde mir klar, wie unterschiedlich ernst wir die Bibel nehmen: Für die einen gilt wortwörtlich alles – die anderen kümmern sich überhaupt nicht drum. Dazwischen gibt es die unterschiedlichsten Auffassungen.

Das ist nicht neu, denn das war schon zur Zeit Jesu und der Apostel so. Jesus hat sich auseinandergesetzt mit Schriftgelehrten, die das Alte Testament sehr wörtlich verstanden haben (z.B. das Sabbatgebot oder die Vorschriften über Ehebruch und Ehescheidung). Jesus dagegen hat nicht nur gefragt: "Was steht buchstäblich da?" sondern: "Was hat Gott eigentlich damit gemeint?" – sehr schön zu erkennen bei der Diskussion über die Ehescheidung (Markus 10,1-9): Nach 5. Mose 7 ist eine Scheidung erlaubt. Jesus dagegen fragt weiter: "Was hat sich Gott eigentlich dabei gedacht, als er Adam und Eva verheiratet hat?" Antwort: "Sie sollten bis an ihr Lebensende zusammenbleiben."

Weil Jesus solche grundsätzlichen Fragen stellte, konnte er auch zu dem Schluss kommen, dass in den Geboten der Gottes- und Nächstenliebe der Wille Gottes zusammengefasst ist (Markus 12,28-34).

Auf diesem Hintergrund ist auch der Monatsspruch zu verstehen: Schon in der ersten Generation gab es viele Christen, die glaubten, sie müssten sich immer noch wortwörtlich an die Vorschriften der Thora halten. Das war aber damals sogar für viele Juden nicht mehr möglich, weil sie in fremden Ländern lebten, in denen andere Gesetze galten oder aus denen man nicht so einfach mal schnell nach Jerusalem reisen konnte, um die vorgeschriebenen Opfer darzubringen.

Paulus setzt sich daher ganz entschieden dafür ein: Den neu getauften Christen darf nicht die ganze Last des alttestamentlichen Gesetzes aufgebürdet werden. An Stelle der Paragraphen der Thora gilt seit Christus nur noch das Liebesgebot. Wer liebt, tut kein Unrecht und erfüllt den Willen Gottes (Römer 13,8-10).

Wozu brauchen wir dann aber das Alte Testament? Nicht als Gesetzbuch, sondern weil es uns hilft, den ursprünglichen Willen Gottes zu verstehen (Jesus) und weil es auf Jesus hinweist (Paulus). Luther kam später zu dem Schluss: "Christus ist die Mitte der Schrift", er steht im Zentrum und alles andere ist auf Christus hin angeordnet. Manche Stellen stehen sehr nahe am Zentrum (z.B. das Liebesgebot) – andere sind ziemlich weit davon entfernt (z.B. die Opfervorschriften, die Ausrottungsbefehle, die Strafbestimmungen).

Mit dem Alten Testament beschäftigt sich Paulus auch im schwer verständlichen Kapitel 2. Korinther 3. Der Grundgedanke ist in Vers 1-3 formuliert: Gott schreibt seinen Willen nicht mehr auf steinerne Tafeln, sondern in unsere Herzen, d.h. er gibt uns seinen Geist, der uns zeigt, wie wir uns zu verhalten haben. Einem kleinen Kind muss man sagen, was es zu tun und zu lassen hat – ein Erwachsener ist fähig, selbst zu entscheiden und muss nicht dauernd fragen: "Darf ich – darf ich nicht?" "Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit", er macht uns unabhängig von Vorschriften und Gesetzen und hilft uns, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und in Vers 6 weist Paulus darauf hin: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" – wahres, sinnvolles Miteinander wird erst möglich, wenn wir dem Geist Gottes folgen. Der Buchstabe der Thora tötet, manchmal sogar wörtlich: "Wer das tut, soll des Todes sterben". Aber auch im weiteren Sinn: Buchstabengläubigkeit und Haarspalterei führen zu nichts, lassen uns innerlich vertrocknen. Nur der Geist Gottes kann uns Leben ermöglichen.

Buchstabengläubigkeit kann nicht nur uns selbst das Leben schwer machen, wenn unser Dasein nur noch von Verboten geregelt wird. Sie kann auch anderen das Leben zur Hölle machen, wenn wir z.B. Menschen verdammen, die anders leben als wir. Das sollten wir auch gegenüber den Homosexuellen bedenken, denn "wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit."

Mit freundlichen Grüßen

H. Tischner