Wort für den Monat November 2004

So spricht der Herr: Wahrt das Recht, und sorgt für Gerechtigkeit; denn bald kommt von mir das Heil, meine Gerechtigkeit wird sich bald offenbaren. (Jesaja 56,1)

Liebe Leserin, lieber Leser,

"wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind", damit beginnt das Kinderbuch "Der Struwwelpeter": Der weihnachtliche Geschenkebringer kommt auch zu ihnen, wenn sie sich kämmen, die Nägel schneiden, niemand quälen und keinen Daumen lutschen. Sonst kommen statt des Christkinds die Spötter, der bissige Hund oder der Schneider mit der Scher'. Eigentlich ein durchaus christlicher Gedanke: Die Bösen werden bestraft und die Guten werden belohnt.

Ähnliches scheint auch das Prophetenwort zu sagen: Wenn ihr für Recht und Gerechtigkeit sorgt und schön den Sabbat haltet (Vers 2), dann kommen Gottes Heil und Gottes Gerechtigkeit.

Aber halt mal, das ist doch was anderes als beim Struwwelpeter! Hier heißt es nicht: "Wenn ihr all das tut, was Gott von euch erwartet, die 10 Gebote haltet, Geld spendet und im CVJM mitarbeitet, dann lässt sich Gott vielleicht dazu bewegen, das Paradies auf Erden kommen zu lassen, wo es genug zu essen für alle gibt und keinen Krieg mehr." Sondern: "Wenn ihr für Gerechtigkeit sorgt, dann wird sich Gottes Gerechtigkeit offenbaren." (Ich kürze ab, um's ganz deutlich zu machen!) Gottes Heil und Gottes Gerechtigkeit beginnen doch damit, dass wir das Recht wahren und für Gerechtigkeit sorgen.

Die Beispiele aus dem "Struwwelpeter" können uns klar machen, wie das gemeint ist. Auf den ersten Blick erhält jeder der kleinen Übeltäter seine Strafe, manchmal ein bisschen absurd: Der "böse Friederich" wird von einem Hund gebissen, der "Zappelphilipp" fällt vom Stuhl und verdirbt das Mittagessen, das zündelnde Paulinchen verbrennt, der Nikolaus steckt die bösen Buben ins Tintenfass, die den Mohren verspottet hatten und der Schneider amputiert die abgelutschten Daumen. Und die Moral von der Geschicht': Alle Schuld rächt sich auf Erden? Eine Aufforderung an alle Möchtegern-Richter und -Rächer, hart durchzugreifen? Beileibe nicht!

Die eigentliche Moral ist doch eine ganz andere: Der "böse Friederich" lernt die bittere Lektion, wie das weh tut, wenn man selbst gequält wird. Der Nikolaus macht die bösen Buben selbst zu "Mohren"; jetzt erfahren sie am eignen Leib, wie das ist, wenn man wegen seiner schwarzen Haut verspottet wird. Die Moral ist also eine ganze andere: Überleg dir vorher, was das für Folgen haben kann wenn du das tust (du kannst verbrennen wie Paulinchen oder in den Fluss fallen wie "Hans guck in die Luft"). Und: Versetz dich einmal in die Lage derer, die du quälst oder verspottest.

Hier fängt die Gerechtigkeit an und nicht damit, dass Übeltäter verurteilt und bestraft werden. Gottes Gerechtigkeit fragt nicht danach, was wir verdienen (z.B. Lohn oder Strafe), sondern was wir brauchen (z.B. niemand will verspottet oder gequält werden). Und Gottes "Heil und Gerechtigkeit" kommen nicht dadurch, dass er sie uns schenkt wie das Christkind den artigen Kindern ein Bilderbuch, sondern dass wir anfangen sie zu verwirklichen. Gottes Heil und Gerechtigkeit fängt damit an, dass der Friederich und die bösen Buben niemand mehr quälen und verspotten, dass die Eltern des Zappelphilipp mit dem Jungen zum Kinderpsychologen gehen, dass die Frau Mama dem Konrad nicht mehr dem Schneider droht und dass niemand mehr den übergewichtigen Kaspar zwingt, seine Suppe zu essen. (Die Schuld liegt ja nicht immer nur bei den unartigen Kindern.)

Ähnliches hat auch Jesus gesagt: Die Gottesherrschaft fängt damit an, das ich, Jesus, anfange mit dem Gott Ernst zu machen, der die Liebe ist.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner