Muss ich als Christ meinen Verstand opfern?
Offener Brief
Sehr geehrter Herr NN,
Sie fragten mich, was dieser Spruch bedeuten könnte.
- Es ist immer hilfreich, einen Spruch nicht aus seinem
Zusammenhang zu reißen, sondern die umgebenden Verse mit zu
beachten:
a) Die ersten 9 Kapitel des Sprüchebuchs sind das Vorwort: die
Ermahnungsrede eines Weisheitslehrers an einen Schüler ("Sohn"). Bei
dem, was er ihm beibringen will, geht es nicht um Schulwissen,
sondern um die Kunst zu leben. Davon handelt der Hauptteil des
Buchs: Weisheit in Form überlieferter Sprichwörter.
Diese sind aber keine beliebige Anhäufung von Forderungen. Der
Grundsatz steht gleich am Anfang: 1,7 "Die Furcht des Herrn ist der
Anfang der Erkenntnis." Wir würden sagen: Der Glaube an Gott ist die
Voraussetzung für christliches Leben und Denken, eine Grundlage, die
sich nicht hinterfragen lässt.
b) Der Satz 3,5 "Verlass dich auf den Herrn…" geht weiter in
"sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht
führen. Dünke dich nicht weise zu sein, sondern fürchte den Herrn
und weiche vom Bösen." Auch in Sachen Lebensführung gibt es also
Grundsätze, die nicht in Frage gestellt werden können. Wer das Böse
vermeiden will, der tut gut daran, sich an das Liebesgebot zu
halten, das in den 10 Geboten erläutert wird.
- Es geht also nicht um blinden Kadavergehorsam, sondern um die
Anerkennung bestimmter Voraussetzungen, die sich vielleicht nicht
verstandesmäßig begründen lassen. Auf dieser Basis dürfen, müssen
und können wir durchaus unsern Verstand gebrauchen.
- Das mit dem Verstand hat für uns aber noch andere
Gesichtspunkte, an die der Weisheitslehrer wohl noch nicht gedacht
hat:
a) Betrifft Lebensführung: Der Wille Gottes ist für mich noch nicht
damit erfüllt, dass ich nicht gegen seine Gebote verstoße. Ich
glaube, dass er einen speziellen Plan mit meinem Leben hat, der nur
für mich gilt. Ich will also auch versuchen, diesen Lebensweg zu
gehen, den Gott mir vorgezeichnet hat.
b) Es ist auch sonst im Leben gut, nicht nur auf unsern Kopf,
sondern auch auf unser Herz und unsern "Bauch" zu hören bzw. unsrer
Intuition zu folgen. Denn wenn Gott mit uns redet, dann wohl am
ersten auf diese Weise.
c) In vielen Köpfen spukt die Lehrmeinung herum: "Wer glaubt, muss
seinen Verstand opfern. Er muss gegen die Vernunft glauben, dass die
Welt in 6 Tagen erschaffen wurde und Maria Jungfrau war." Glauben im
Sinne Jesu heißt aber nicht blind etwas für wahr halten, sondern
darauf vertrauen, dass Jesus mir helfen kann und für meine Sünden
gestorben ist.
Ich selber bin der Meinung und halte mich auch daran, dass ich als
gläubiger Mensch nicht meinen Verstand opfern muss. Das wird in der
Bibel nicht gefordert, auch nicht in Sprüche 3,5,
sondern nur, dass ich eine gewisse Grundlage anerkenne, von der aus
ich meinen Verstand gebrauche.
Mit freundlichen Grüßen
Heinrich Tischner