Wort für den Monat April 2005

"Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen und nicht auf deinen Verstand!" (Sprüche 3,5)

Muss ich als Christ meinen Verstand opfern?
Offener Brief

Sehr geehrter Herr NN,

Sie fragten mich, was dieser Spruch bedeuten könnte.

  1. Es ist immer hilfreich, einen Spruch nicht aus seinem Zusammenhang zu reißen, sondern die umgebenden Verse mit zu beachten:
    a) Die ersten 9 Kapitel des Sprüchebuchs sind das Vorwort: die Ermahnungsrede eines Weisheitslehrers an einen Schüler ("Sohn"). Bei dem, was er ihm beibringen will, geht es nicht um Schulwissen, sondern um die Kunst zu leben. Davon handelt der Hauptteil des Buchs: Weisheit in Form überlieferter Sprichwörter.
    Diese sind aber keine beliebige Anhäufung von Forderungen. Der Grundsatz steht gleich am Anfang: 1,7 "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis." Wir würden sagen: Der Glaube an Gott ist die Voraussetzung für christliches Leben und Denken, eine Grundlage, die sich nicht hinterfragen lässt.
    b) Der Satz 3,5 "Verlass dich auf den Herrn…" geht weiter in "sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen. Dünke dich nicht weise zu sein, sondern fürchte den Herrn und weiche vom Bösen." Auch in Sachen Lebensführung gibt es also Grundsätze, die nicht in Frage gestellt werden können. Wer das Böse vermeiden will, der tut gut daran, sich an das Liebesgebot zu halten, das in den 10 Geboten erläutert wird.
  2. Es geht also nicht um blinden Kadavergehorsam, sondern um die Anerkennung bestimmter Voraussetzungen, die sich vielleicht nicht verstandesmäßig begründen lassen. Auf dieser Basis dürfen, müssen und können wir durchaus unsern Verstand gebrauchen.
  3. Das mit dem Verstand hat für uns aber noch andere Gesichtspunkte, an die der Weisheitslehrer wohl noch nicht gedacht hat:
    a) Betrifft Lebensführung: Der Wille Gottes ist für mich noch nicht damit erfüllt, dass ich nicht gegen seine Gebote verstoße. Ich glaube, dass er einen speziellen Plan mit meinem Leben hat, der nur für mich gilt. Ich will also auch versuchen, diesen Lebensweg zu gehen, den Gott mir vorgezeichnet hat.
    b) Es ist auch sonst im Leben gut, nicht nur auf unsern Kopf, sondern auch auf unser Herz und unsern "Bauch" zu hören bzw. unsrer Intuition zu folgen. Denn wenn Gott mit uns redet, dann wohl am ersten auf diese Weise.
    c) In vielen Köpfen spukt die Lehrmeinung herum: "Wer glaubt, muss seinen Verstand opfern. Er muss gegen die Vernunft glauben, dass die Welt in 6 Tagen erschaffen wurde und Maria Jungfrau war." Glauben im Sinne Jesu heißt aber nicht blind etwas für wahr halten, sondern darauf vertrauen, dass Jesus mir helfen kann und für meine Sünden gestorben ist.

Ich selber bin der Meinung und halte mich auch daran, dass ich als gläubiger Mensch nicht meinen Verstand opfern muss. Das wird in der Bibel nicht gefordert, auch nicht in Sprüche 3,5, sondern nur, dass ich eine gewisse Grundlage anerkenne, von der aus ich meinen Verstand gebrauche.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner