Advent

O du Land des Wesens und der Wahrheit
Hier ist Vorplatz nur, spät oder frühe / gehn wir alle weiter ein, / und es lohnt sich wahrlich nicht der Mühe, / lange hier zu sein.

Denn noch müssen wir ein Land bewohnen, / wo der Rost dis Eisen frisst, / wo durchhin, um Hütten wie um Thronen, / alles brechlich ist;

wo wir hin aufs Ungewisse wandeln / und in Nacht und Nebel gehn, / nur nach Wahn und Schein und Täuschung / handeln und das Licht nicht sehn;

wo im Dunkeln wir uns freun und weinen, / und rund um uns, rund umher, / alles, alles, mag es noch so scheinen, / eitel ist und leer.

O du Land des Wesens und der Wahrheit, / unvergänglich für und für, / mich verlangt nach dir und deiner Klarheit, / mich verlangt nach dir.

Matthias Claudius

Liebe Leserin, lieber Leser,

im Wartezimmer sitzen die Patienten und warten, bis sie an der Reihe sind. Sie vertreiben sich die Zeit mit Lesen oder sitzen auch nur da und hängen ihren Gedanken nach. Sie sind nicht gekommen, um zu warten, sondern um sich vom Arzt beraten oder behandeln zu lassen.

Ich sitze nicht gern im Wartezimmer. Verlorene Zeit, die ich anders besser nutzen könnte! Der Arztbesuch bräuchte überhaupt nicht zu sein, wenn ich gesund wäre. Nun muss ich mir halt die Zeit nehmen. So sitze ich da voll innerer Spannung: Was wird der Doktor sagen und mit mir machen? Wird er das erlösende Wort sprechen: "Kein Grund zur Aufregung, nur ein harmloser Infekt!" Oder ist es was Ernstes? Muss ich unters Messer?

Vorplatz, Vorzimmer, Wartezimmer… So versteht Matthias Claudius sein Leben. Vorplatz, vertane Zeit, Warten auf das Eigentliche. Das war allgemein so vor 200 Jahren. Da verstanden die Menschen ihr Leben als ein Warten auf die Ewigkeit.

Heute sagen viele: "Ich will aber nicht warten. Ich lebe jetzt. Ich muss mein Leben jetzt mit Inhalt und Sinn füllen und nicht bloß tatenlos dasitzen und warten."

Muss denn Warten tatenlos sein? Was Warten ist, sehen wir an Weihnachten: Wir sitzen da nicht im Wartezimmer, sondern haben alle Hände voll zu tun, damit wir das Fest feiern können. Das Fest lebt davon, dass wir es vorbereiten und dass wir uns darauf vorbereiten. Mit der Vorbereitung und nicht erst am vorgesehenen Tag fängt das Fest bei uns schon an. Und wer schon vor den Feiertagen Plätzchen nascht, für den hat das Fest schon begonnen.

So verstehe ich mein Leben als Christ: Ich warte auf die Vollendung der Welt, aber nicht tatenlos wie die Patienten im Wartezimmer, sondern aktiv wie ein Plätzchennascher. Ich will nicht warten bis zum Jüngsten Tag, sondern ich fange mit der Vollendung der Welt schon mal an, und zwar sofort und bei mir. Und trotzdem bin ich noch nicht fertig, sondern habe noch etwas, worauf ich warten und mich freuen kann.

Johann Peter Hebel erzählt eine Geschichte von einem übergewichtigen Patienten, dem sein Arzt statt Tropfen und Pillen verordnete, er solle den weiten Weg in die Praxis zu Fuß zurücklegen. Er wurde gesund, indem er sich auf den Weg machte.

Die heutigen Menschen haben das Warten ganz aufgegeben. Sie leben aus der Gegenwart, weil sie keine Zukunft mehr haben. Für mich als Christ und für euch als Christen aber haben wir eine Zukunft!

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner