Monatsspruch Februar 2010

Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande. (5. Mose/Deuteronomium 15,11)

Liebe Leserin, lieber Leser,

ein faszinierendes Programm hatten die Leute, die mit Mose an die Grenze des Verheißenen Landes gekommen waren: Das Land wird gleichmäßig an alle Familien verteilt und darf nicht verkauft werden. Jeder soll sich als Kleinbauer "unter seinem Weinstock und Feigenbaum" selbst versorgen, auch der Stammesälteste, auch der Richter, der an der Spitze der Gemeinschaft steht. Sie brauchten keinen Staat, keinen König, keine Verwaltung, kein Militär, kein Staatsdefizit. Und natürlich auch keine Steuern, also auch keine Steuersenkungen.

Und das soll gut gehen? Zwei- oder dreihundert Jahre hat das Gemeinwesen ohne Staat tatsächlich funktioniert. Die Regelung, dass israelitischer Grundbesitz unverkäuflich ist, war länger als ein halbes Jahrtausend in Kraft, auch der König musste sich daran halten, wie die Geschichte von Nabots Weinberg zeigt (1. Könige 21).

"Jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum", das war soziale Gerechtigkeit. Solange man sich daran hält, dürfte es keine Armen mehr geben. Sollte man meinen.

Aber Mose warnt vor Illusionen. Auch das gerechteste Sozialsystem kann Armut nicht verhindern. Daher das zwingende Gebot (nicht die zaghafte Bitte oder der unverbindliche Rat): Jeder ist verpflichtet, einen Armen zu unterstützen.

Wieso kann es aber Arme geben, wenn sich jeder selbst versorgen kann? Die Gründe für Armut sind vielfältig: Was heute die Wirtschaftskrise ist, waren damals Missernten, Trockenheit oder Heuschrecken. In den vielen Kriegen wurden die Äcker verwüstet. Feinde raubten die Ernte. Die Belagerten litten Hunger. Auch in guten Zeiten konnte eine Familie verarmen, weil sie wegen Krankheit und Todesfällen das Land nicht bewirtschaften konnte. Oder weil die Menschen nichts taugten. Die Thora begnügt sich nicht nur mit der allgemeinen Pflicht zu helfen, sondern hat ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Menschen ins Elend abstürzen.

Ich finde es bemerkenswert, dass Mose realistisch ist und sich keine Illusionen macht. Er hat ein gutes Programm, aber kein Patentrezept. Heute sind wir ja geneigt zu sagen: Wir müssen das Übel an der Wurzel packen, statt nur die Auswirkungen abzumildern. Das Übel heute ist sicher die Gier, nicht nur die der Bank-Manager und Finanzierungskünstler. Denn Gier ist der Motor der Marktwirtschaft. Wenn jeder zufrieden wäre und sich mit dem begnügen würde, was er hat, würde sie nicht funktionieren. Unsre Wirtschaft lebt vom Wachstum. Sie lebt davon, dass sie unsre Bedürfnisse weckt. Genügsamkeit ist Gift für sie. Und Balsam für die Umwelt.

Patentrezepte neigen zu gewaltsamen Lösungen. Wir wissen, was dabei herauskommt: Blut und Tränen und Ideale, die ins Gegenteil verkehrt werden. Jesus hat Radikallösungen abgelehnt. Man kann nicht das Unkraut vom Weizen trennen (Matthäus 24,25-30). Die Christen sollen wie Salz (Matthäus 5,13) und Sauerteig sein (Matthäus 13,33): ein bisschen genügt – aber allzu viel ist ungesund. Jesus hat gefordert: "Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen" (Markus 10,21). Wo kämen wir hin, wenn das jeder machen würde? Wo kämen wir hin, wenn sich jeder alles gefallen lassen würde, wie es Jesus in Matthäus 5,39 fordert? Und wo kämen wir hin, wenn wir die Suppe 1:1 mit Salz mischen und das Sauerteigferment pur essen würden?

Das Evangelium taugt nicht als Patentrezept für Weltverbesserer. Die mittelalterlichen Klöster haben mit Jesu Armutsideal Ernst gemacht, solange sie nicht selbst Reichtümer anhäuften. Es hätten nicht alle Menschen ins Kloster gehen können, aber die Ordensgemeinschaften waren als Minderheit wie Salz und Sauerteig und haben segensreich gewirkt. So kann es auch ein Segen in der Welt des Wirtschaftswachstums (bzw. der Rezession) sein, wenn es Menschen gibt, die gegensteuern und "einfach leben, damit andere einfach leben können".

Lernt vom Auto ein Gleichnis: Es hat nicht nur ein Gaspedal, sondern auch eine Bremse. Unsre Welt braucht Gasgeber und sie braucht Bremser. Sie funktioniert nur, wenn beide zusammenwirken.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner