Monatsspruch Dezember 2011

Gott spricht: Nur für eine kleine Weile habe ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen hole ich dich heim. (Jesaja 54,7)

Liebe Schwestern und Brüder,

manchmal greifen wir uns an den Kopf und fragen unser Gegenüber: "Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen, dass du so einen Blödsinn machst? Wer hat denn dir diesen Floh ins Ohr gesetzt?" Du folgst einer verrückten Idee statt auf die Stimme der Vernunft zu hören, das sind der Floh und die guten Geister. Vernünftig ist es, auf den Rat von Menschen mit Erfahrung und den der Bibel zu hören. Die Stimme der Vernunft, lehren schon Weisen der Bibel, ist die Stimme Gottes. Wer unvernünftig ist, ist "gottlos". Die Gottlosen der Bibel waren gewissenlose Neunmalkluge, die guten Rat ausschlugen und machten was sie wollten: intelligent, aber unvernünftig.

Ganz anders die heutigen Atheisten. Das sind Menschen, die modernes Denken und religiöse Weltanschauung nicht miteinander vereinbaren können und daher Gott aus ihren Gedanken verbannt haben. Oder als Nachkommen von Atheisten ohne Religion aufgewachsen sind.

Es gibt aber auch Gottlose, die nicht Gott verbannt haben, sondern die von Gott verlassen wurden. Zu ihnen redet der Monatsspruch. Der prominenteste von ihnen ist Jesus, der am Kreuz beginnt den 22. Psalm zu beten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Seine Feinde verspotten ihn mit Worten aus der Weisheit Salomos: "Er hat Gott vertraut, der helfe ihm heraus, wenn er Lust zu ihm hat." Gott hat aber keine Lust. "Er hilft zwar nicht zu jeder Frist", in diesem Fall aber auch nicht, "wenn's nötig ist" und lässt Jesus im Elend hängen.

Gottverlassenheit ist die schlimmste Bewährungsprobe, die unser Glaube bestehen muss. Wir versinken in der Finsternis der Schmerzen, der Verzweiflung, der Sinnlosigkeit, des Todes. Wir fallen ins Bodenlose. Und Gott rührt und regt sich nicht. Er schweigt.

Die Bibel ist voll von Geschichten über Menschen, denen es genauso gegangen ist: König Saul, der von Gott keine Antwort bekam, sich in seiner Not an eine Hexe wandte und Tags darauf nach verlorener Schlacht Selbstmord beging. Elija, der völlig erschöpft unter einem Dornbusch in der Wüste zusammenbricht, weil sein Lebenswerk gescheitert ist und Baal gesiegt hat. Hiob, der nicht verstehen kann, warum Gott ihm dieses entsetzliche Leid zufügt. Paulus, der bereitwillig Leiden auf sich nimmt, die sich durch seine Missionstätigkeit ergaben. Aber auch den "Pfahl im Fleisch", wohl ein unheilbares Augenleiden? Gott erhört seine Gebete nicht und befreit ihn nicht davon.

Ich habe bewusst das Wort "scheinbar" vermieden, mit dem wir uns vorschnell über die Gottverlassenheit dieser Menschen hinweg trösten. Sie fühlten sich wirklich verlassen. Saul ist wirklich gescheitert. Elija durfte gerade noch seine Nachfolge regeln, aber nicht weitermachen. Jesus starb kurz nach seinem Gebet. Und Paulus war und blieb krank.

Aber Paulus hörte in seiner tiefsten Verzweiflung das Wort: "Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Gerade, weil Paulus schwach war, konnte das Evangelium seine wahre Kraft beweisen. Es war nicht die Vitalität, Weisheit oder Aura eines religiösen Stars, die Menschen zum Glauben brachte, sondern die Macht, die dem Wort der Wahrheit innewohnt und die Herzen der Menschen berührt.

Nun, das war ein sehr persönliche Erlebnis, das sich nicht einfach auf andere Menschen übertragen lässt. Der Monatsspruch geht von einer anderen Erfahrung aus, die wir alle gemacht haben, als kleine Kinder: Wir haben gelernt, dass ein Mensch, den man nicht sieht, trotzdem da ist. Die Mutter ist mal kurz weggegangen und kommt wieder. So ist auch Gott: Er verlässt uns nicht für immer, sondern nur "für eine kleine Weile". Er ist da, auch wenn wir im Moment nichts von ihm merken. Aber er hat uns versprochen: "Mit großem Erbarmen hole ich dich heim."

Vor ein paar Jahren dachte ich: Man lebt so in den Tag hinein und merkt nicht viel von Gott. "Lieber Gott, lass mich doch mal spüren, dass du da bist." Bums, da lag ich auf dem Boden, Knöchel gebrochen, später Rückenschmerzen. Ein Jahr später lag ich wieder da, Blutgerinnsel im Schädel. Ob ihr's glaubt oder nicht: Gerade da habe ich mich nicht von Gott verlassen gefühlt. Denn "wo die Not am größten, ist Gott am nächsten."

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner