Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. (Matthäus 5,39)

Liebe Leserin, lieber Leser,

auch im Mai möchte ich Jesus selbst zu Wort kommen lassen.

Was wird passieren, wenn wir uns so verhalten, wie es Jesus geboten hat, und uns nicht wehren? Mein Vater hat's in jungen Jahren mal ausprobiert. Er bekam eine Ohrfeige und sagte: "Da ist noch ein Backen." Der Gegner war verblüfft und schlug kein zweites Mal. Also ein Trick, wie man einen Schläger zur Vernunft bringen kann?

Dann hätten wir Jesus missverstanden. Das sehen wir schon daran, dass er fortfährt: "Wenn dir jemand dein einziges Hemd pfändet, dann lass ihm auch den Mantel (der nachts als Decke diente und unpfändbar war). Und wenn dich jemand zu einer Meile Transportleistung zwangsverpflichtet, dann geh mit ihm zwei." Eine solche Zwangsverpflichtung war, dass Simon von Kyrene Jesus das Kreuz tragen musste. Die Soldaten griffen irgendjemand auf der Straße auf: "He du da, trag mal mein Gepäck!" Besatzungsrecht. Es gab sicher Hitzköpfe, die sich wehrten, aber das war sinnlos. Genauso hilflos war man gegenüber dem Großgrundbesitzer, dem man die Pacht nicht zahlen konnte. Der pfändete rücksichtslos sogar das letzte Hemd. Wie die Wachmannschaft mit dem Angeklagten Jesus umging, lesen wir in der Passionsgeschichte. Sich nicht wehren war das Gebot der Vernunft. Aber warum freiwillig mehr als gefordert?

Sicher nicht wegen des lobenswerten Grundsatzes "lieber Unrecht leiden als Unrecht tun": Gewalt ist böse, egal ob man damit anfängt oder ob man sich nur wehrt. Und wir erleben ja immer wieder, wie es zu einer Eskalation kommt, wenn jemand von seinem angeblich guten Recht auf Notwehr Gebrauch macht. Aber nach diesem Grundsatz würde es ja genügen, was auch jüdische Weise empfahlen: "Wem das Gewand vom Gericht abgenommen wurde, singe ein Lied und gehe seines Wegs."

Vielleicht, weil man durch die freiwillige Dreingabe seine Würde wahren kann? Das schon eher. Wer an Jesus glaubt, hat nichts zu verlieren, den "Schatz im Himmel", die Liebe Gottes, das ewige Leben kann uns keiner nehmen. Warum sollen wir etwas verteidigen, das wir doch nicht dauerhaft halten können? "Das letzte Hemd hat keine Taschen". Und wenn es wirklich hart auf hart kommt: Wir stehen doch in Gottes Hand.

Kann man so leben? Die Spielregeln der Welt lauten anders: "Du musst dich wehren, sonst machen sie mit dir, was sie wollen. Du musst fordern und für deine Ansprüche kämpfen, sonst kriegst du nichts. Streike, protestiere, geh auf die Barrikaden! Lass dich in die Opferrolle drängen, dann kannst du Entschädigung fordern. Wisch deinem Nächsten eins aus, denn dann stehst du besser da!"

Herr Jesus, wie lange muss ich mir das alles noch ansehen? Komm vom Himmel auf die Erde zurück, in unser Leben, in unsre Welt, und fang mit uns neu an das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen. Erfülle unsre Herzen mit deiner Liebe, dass keine bösen und bitteren Gedanken und kein Hass darin aufkommen. Mein Herz gehört dir. Komm und wohne bei mir.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner