Monatsspruch April 2016

Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. (1. Petrus 2,9)

Liebe Leserin, lieber Leser, du bist was Besonderes!

Das geht nur, wenn andere nichts Besonderes sind. Wenn jeder was Besonderes wäre, dann wäre jeder ganz normal. Denn das Besondere am Besonderen ist doch, dass das nicht gewöhnlich, sondern ungewöhnlich ist. Genauso geht "auserwählt" nur, wenn andere nicht auserwählt sind, nicht genommen und verworfen werden.

Petrus schreibt das aber nicht an einzelnen Menschen, sondern an Gemeinden in Kleinasien in der heutigen Türkei und knüpft dabei an Gedanken an aus dem Alten Testament: das "heilige Volk", das Gott "auserwählt" hat, sind die Nachkommen Abrahams, durch die "alle Geschlechter der Erde gesegnet" sein sollen (Genesis 12,3). Aber auch nicht alle, wie die weitere Geschichte zeigt: Nicht Esau, sondern Jakob bekommt den Segen. Von den zwölf Stämmen, die auf Jakob zurückgehen, blieben nur die Juden und Samaritaner übrig. Aber eigentlich ging es nicht um die Gene, sondern um das geistliche Erbe Abrahams, den Glauben an nur einen Gott, die Bindung an seine Gebote und letztlich an die Bibel. Noch Jesus war der Meinung, er sei "nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel" gesandt (Matthäus 15,24), lernte aber dazu und half auch Nichtjuden. Schon damals gab es viele Nichtjuden, die sich zum Glauben Abrahams bekehrt hatten. Die ersten Christen sprengten dann endgültig die nationalen Grenzen und verkündigten das Evangelium allen Völkern. Der Segen Abrahams ging so tatsächlich auf "alle Geschlechter der Erde" über.

Aber doch nur an die, die dem Gott Abrahams die Treue halten, also Juden Christen und Muslime, oder? Ich würde das nicht so eng sehen, denn manche "primitive" Völker stehen dem ursprünglichen Glauben näher als wir, und die indischen Religionen haben das Liebesgebot besser verstanden als wir.

Trotzdem muss ich Petrus Recht geben: Es muss Menschen geben, die "heiliger" sind als andere. Nicht weil sie die besseren Christen sind, sondern weil sie dafür sorgen, dass das ursprüngliche Anliegen Jesu nicht in Vergessenheit gerät. Wir sehen ja, was herauskommt, wenn sich jeder seinen Glauben zurechtschustert. Viele Sekten sind dadurch entstanden, dass jemand die Bibel gelesen hat und sich seinen eigenen Reim drauf gemacht. Für uns ist Jesus die Hauptsache. Apostel, Propheten und Mose sind nachrangig. Und alles andere in der Bibel ist nur Illustration oder völlig unwichtig.

Und noch aus einem anderen Grund muss es "heiligere" Menschen geben: Als Vorbild und Ansporn für die eigene Lebensführung. Die Heiligen Martin, Franziskus und Elisabeth gelten heute noch als Vorbilder für freiwillige Armut und tätige Nächstenliebe. Und weil sie stellvertretend für uns innere Kämpfe durchgefochten haben, die uns erspart bleiben. Wie Martin Luther, der für uns die Gnade Gottes neu entdeckt hat. Und weil sie sich für das Gemeinwohl engagieren, was mir z. B. verwehrt ist. Und weil sie etwas tun, was nicht jeder kann, nämlich für andere beten. Und weil durch sie Gott in unsrer Welt Gestalt annimmt.

Freu dich, liebe Leserin und lieber Leser, wenn du dich zu den Auserwählten rechnen kannst. Das ist aber kein Zuckerschlecken. Ein "auserwählter" Minister oder Staatsoberhaupt hat eine Menge Arbeit und Ärger. Und das "auserwählte Volk" Israel wurde nicht mit Ehren überhäuft, sondern in den Dreck getreten - wie Jesus. Sodass der jüdische Milchmann Tevje im Musical "Anatevka" Gott fragen muss, ob er sich nicht auch mal ein anderes Volk auserwählen kann.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner