Monatsspruch November 2016

Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet. (2. Petrus 1,19-21)

Liebe Leserin, lieber Leser,

war Petrus evangelisch oder katholisch? Er gilt heute als der erste Papst, von Jesus als Leiter der ersten Gemeinde eingesetzt. Auf ihn beruft sich die katholische Kirche, während sich die evangelische auf die Seite von Paulus geschlagen hat. Der kam erst später dazu und wurde nicht überall anerkannt. Petrus hatte Autorität durch sein Amt und Paulus durch die Überzeugungskraft seiner Worte.

Das ist ein Gegensatz, den es heute immer noch gibt, und zwar nicht nur in religiösen Fragen. Beispiel Fachleute und Laien, Hauptamtliche und Ehrenamtliche, Buchwissen und Erfahrung. Die einen haben die Macht oder wissen's, die anderen können's. Das sind keine Gegensätze, die einander ausschließen, sondern einander ergänzen müssen. Gefährlich wird's, wenn es nicht mehr um sachgemäßes Handeln geht, sondern um Macht und Geld. Religiöse Institutionen neigen dazu, sich unentbehrlich zu machen und auf diese Weise Geld zu verdienen. So war das schon im Alten Testament: Jeremia, selbst Priester und Fachmann, behauptet, Gott habe Mose nur die Gebote gegeben, aber nichts von Opfervorschriften gesagt (Jeremia 7,22.23). Opfern war damals allgemein üblich, und als es später einen Tempel und beamtete Priester gab, hat man immer mehr Anlässe zum Opfern erfunden und immer kompliziertere Rituale ausgedacht. Grund: Die Priester lebten von den Opfergaben. Die heutigen Kirchen sind nach diesem Gesichtspunkt dumm, wenn sie nicht für jeden Handgriff Geld verlangen, sondern ihre Dienste auch Nichtmitgliedern kostenlos anbieten: der Vorteil der Kirchensteuer. Es ist nicht gut, wenn Fachleute die Laien von sich abhängig machen.

Es ist aber auch nicht gut, wenn die Laien meinen auf Fachwissen verzichten zu können. So ist es auch mit der Auslegung der Bibel, von der Petrus schreibt: Da die Bibel von Menschen geschrieben wurde, die "vom Geist Gottes getrieben wurden", können wir sie nur aus diesem Geist heraus verstehen. Das ist gar nichts Mystisches und Mysteriöses, sondern ganz praktisch: Ich habe zwar das Recht, die Bibel auszulegen, aber nicht den Koran. Ich bin in dieser Welt nicht zu Hause, ich kenne die Überlieferungen und Gepflogenheiten des Islam nicht. Man kann aus der Bibel alles herauslesen: aus der Schöpfungsgeschichte, dass der Mann eine Rippe weniger hat (hat neulich jemand behauptet), aus der Thora Tipps für die Ernährung, aus dem Buch Josua militärische Tricks. Man muss die Bibel aber als Ganzes kennen, aus ihrem Geist heraus verstehen, das heißt für uns: aus dem Geist Jesu heraus. Jesus hat eindeutig Gewalt, sogar Gegenwehr, verboten (Matthäus 5,39), also kann er kein Freiheitskämpfer oder Revolutionär gewesen sein, wie es manchmal dargestellt wird. Und deshalb sind die Kriegsgeschichten im Alten Testament für uns Christen unwichtig. Es spricht aber für die Synagoge und Kirchen, dass sie unbequeme Geschichten nicht gestrichen oder die Bibel umformuliert und die Verbrechen der Vorfahren nicht geleugnet haben.

Man stellt es heute gern so dar, als seien Jesus und die Jünger ungelehrte Leute gewesen, "ungebildete einfache Handwerker und Fischer" - Gelehrtenhochmut, die sich nicht vorstellen können, dass Handarbeiter auch nicht dumm sind. Damit verkennen wir das Wesen der jüdischen Religion, bei der damals wie heute das Lernen an erster Stelle stand, und deren Synagogen nicht nur Gotteshäuser, sondern "Lehrhäuser" sind, in denen spitzfindige Diskussionen geführt werden. Die Jünger waren Studenten und Rabbi Jesus ihr Lehrer ("Meister"). Auch Paulus war kein dahergelaufener Zeltmacher, sondern in seinem früheren Leben Thora-Jurist im Dienst des Hohenpriesters. Im Unterschied zu heute bekamen die Schriftgelehrten aber kein Gehalt, sondern mussten sich ihr Geld anderweitig verdienen, als Zimmermann wie Jesus oder als Zeltmacher wie Paulus. Sie kamen nicht aus Akademikerfamilien (wie heute viele evangelische Pfarrer), sondern aus Familien, die sich von ihrer Hände Arbeit ernährten (wie heute viele katholischen Pfarrer).

Luther hat uns eine wichtige Verständnishilfe für die Bibel an die Hand gegeben: "Christus ist die Mitte der Schrift", um ihn herum die Evangelien, die Apostel, die moralischen Gebote, die Propheten und praktischen Texte wie die Psalmen, und "ferner liefen" die alttestamentlichen Geschichten und Tempelvorschriften.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner