Monatsspruch Juni 2017

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apostelgeschichte 5,29)

Liebe Leserin, lieber Leser,

eine lächerliche Szene: In Jerusalem ist der Tempelberg, ein muslimisches Heiligtum. Dort muss man die Schuhe ausziehen und Frauen in Hosen müssen einen Rock überziehen. Eine christliche Feministin weigerte sich lautstark dieses Symbol der Unterdrückung zu tragen. Wohlgemerkt, einen Rock und keine Burka. Das wäre eine religiöse Frage gewesen. Röcke, sogar Kopftücher, sind auch in manchen Kirchen Pflicht. Wer das nicht will, muss halt draußen bleiben.

Eine ernste Szene: 2000 Jahre vorher, auch Jerusalem, auch Tempelberg, ein jüdisches Heiligtum. Ein paar Leute werden festgenommen wegen Volksverhetzung. Sie hielten Volksrede zugunsten eines Hingerichteten. Vor Gericht sollten sie versprechen, dessen Namen nicht mehr zu erwähnen. Ihr Anführer, Petrus, sagte: "Wir können es nicht lassen. Denn man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Wie unvernünftig! Er riskierte Kopf und Kragen. Einer der Richter nahm ihn in Schutz: "Es gab schon mehr Sekten, die sang- und klanglos untergegangen sind. Wenn Gott hinter ihnen steht, kommen wir nicht dagegen an." Ein frühes Plädoyer für Meinungsfreiheit!

Petrus redet aber nicht von Freiheit, sondern von Gehorsam: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen." Gott hat ihm befohlen, für Jesus Propaganda zu machen. Das Gericht will ihm das verbieten. Es geht ihm nicht drum, sich durchzusetzen und seine Freiheit zu erkämpfen. Es ist ein Gewissenskonflikt: Gehorche ich Gott oder den Menschen?

Noch eine ernste Szene: 1500 Jahre später, in Worms, steht der katholische Theologieprofessor Luther vor Gericht, weil er dem Bischof und dem Papst das Geschäft vermasselt hatte: Er hatte einen päpstlichen Beauftragten kritisiert, der Eintrittskarten für den Himmel verkaufte. Theologischer Schwachsinn, Bauernfängerei, ein Freibrief fürs Sündigen. Luther wusste nichts von dem Deal zwischen Papst und Bischof: Der Papst brauchte Geld und der Bischof auch. Also sollte der Bischof in seinem Sprengel die Himmelsaktien verkaufen und die Einnahmen teilen. Natürlich ging's auch um die Macht: Wer hat in der Kirche was zu sagen? Und der Kaiser musste die Dreckarbeit machen und den vorlauten Professor ächten. Tat er auch und seine Behörden stellten allen Fürsten und Reichsstädten das Urteil zu, dass Luther kein Recht zu leben hätte. Aber in Sachsen kam der Brief nicht an. Diese dussligen Behörden! Oder war's Absicht? Denn der Kaiser war eigentlich ebenfalls für Reformen.

Wie sich die Szenen wiederholen: Luther hat in Worms keine Wahl: Er soll alles, was er geschrieben hatte, widerrufen und für falsch erklären. Er ist verdattert, kriegt Bedenkzeit und sagt am nächsten Tag: Das kann doch nicht sein, dass von A-Z alles falsch ist, was ich geschrieben habe. "Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; … so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"

Dieser 17. April 1521 ist der Geburtstag der Gewissensfreiheit: Niemand kann gezwungen werden gegen seine begründete Überzeugung zu handeln - aber wenn er Gesetze übertritt, kann er trotzdem bestraft werden. Vor 3400 Jahren stand in Athen Sokrates wegen seiner Philosophie vor Gericht. Auch er berief sich auf seine innere Stimme und wurde zum Tod verurteilt. Er nahm das Urteil an, weil er die Gesetze Athens achtete, und trank widerspruchslos den Giftbecher. Seine Lehren hat er nicht aufgeschrieben. Berühmt wurde er durch seine Redlichkeit und Standhaftigkeit.

Dem Gewissen oder "Gott gehorchen macht frei" bedeutet nicht, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Luther betont: "überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes". Er ist einer höheren Autorität verpflichtet. Ich glaube immer noch, "dass Jesus Christus sei mein Herr" und "dass ich sein eigen sei" (Luthers Erklärung zum 2. Artikel), also gebunden und unfrei. Weil ich damit auch der Wahrheit und der Liebe verpflichtet bin, muss ich wenigstens Gott und mir selbst gegenüber ehrlich sein und mein Leben und Tun als Dienst verstehen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner