Monatsspruch Oktober 2020

Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. (Jeremia 29,7)

Liebe Leserin, lieber Leser,

im heute russischen Ostpreußen erzählte unser Reiseführer, wie seine Eltern gegen ihren Willen aus Kiew in den Norden umgesiedelt worden waren. Sie hätten - bildlich gesprochen - den Rest ihres Lebens auf ihren Koffern gesessen und gehofft, dass sie wieder heim durften. Ähnlich erging es vor mehr als 2500 Jahren den Juden, die nach verlorenem Krieg nach Babylonien verschleppt worden waren. Auch sie saßen auf ihren Koffern und hofften wieder heim zu dürfen. Und es gab Meinungsmacher, die sie darin bestärkten.

Aber Jeremia macht ihnen keine Hoffnung: "Glaubt ihnen nicht. Packt eure Koffer aus, richtet euch in der neuen Umgebung ein, baut Häuser, pflanzt Gärten, gründet Familien und suchet der Stadt Bestes, in der ihr wohnt." Aber Jeremia deutet in Vers 10 auch an: "In 70 Jahren wird euch Gott wieder zurückführen", also ein Menschenleben später. Ihr werdet es nicht mehr erleben.

Jeremia hatte recht. Die Juden lernten in der Fremde zu leben. Wie die Geschichten von Josef (1. Mose 37-50), Daniel und Esther zeigten, konnten sie im Ausland ihre Religion ausüben und ihre Traditionen pflegen, auch wenn's Konflikte gab, und sogar Karriere machen.

Das ist lange her. Was geht uns das an? Ich bin in der Nachkriegszeit aufgewachsen, als Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge zu uns in den Westen kamen oder nach ihrer Kriegsgefangenschaft nicht mehr in ihre Heimat im Osten durften. Wir hatten doch selber keinen Platz, denn unsre Städte waren kaputt. In meinem Elternhaus wohnten fünf Erwachsene und drei Kinder in vier Zimmern. Die heimatvertriebene Familie eines Schulkameraden hauste mit sechs Personen in zwei Zimmern. Mir ist früh die Ähnlichkeit der Geschichte Israels und unsrer Nachkriegsgeschichte aufgefallen.

Und heute? Ist es auch nicht anders. Ich besuchte vor 30 Jahren christliche Syrer in einem Übergangsheim: Ein Einfamilienhaus, vollgestopft mit Flüchtlingen, die in Doppelstockbetten schliefen. Ein Verwandter, der in Darmstadt studierte, konnte übersetzen.

Ich hab als Kind gelernt: "Unsre Heimat ist im Himmel" (Philipper 3,20), "denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." (Hebräer 13,14) Und da höre ich schon im Hinterkopf die Gegenstimme: "Wir dürfen nicht aufs Jenseits vertrösten, sondern müssen die Welt verändern." Das führt dazu, dass jede Veränderung gleich wieder von anderen verändert wird. Wem ist damit geholfen?

Jeremia war kein Hellseher, sondern ein Schwarzseher. Er hatte die Katastrophe kommen sehen und vor falschen Entscheidungen gewarnt. Er hat auch kein rosiges Bild von einer Zukunft in der Heimat gemalt, sondern gesagt: "Es gibt kein Zurück. Die Heimat ist Vergangenheit. Babylonien ist Gegenwart. Ihr lebt hier und jetzt, also macht das Beste draus." Hier und jetzt, das war der gepackte Koffer in der überfüllten Notunterkunft. Woanders und demnächst warteten Arbeit und eine bessere Wohnung, vielleicht sogar ein Häuschen mit Garten, Familiengründung. Kinder und Enkel erleben. Sich fürs Gemeinwohl engagieren, Ansehen und Achtung gewinnen.

Es gibt kein Zurück! Für mich war schon in meiner Schulzeit klar, dass ich als Ingenieur, Arzt, Lehrer oder was auch immer in meinem Heimatdorf keine Arbeit finden würde. "Der Mann (und die Frau auch) muss hinaus ins feindliche Leben" und "fremd kehrt er heim ins Vaterhaus", wusste schon Schiller. So ging es auch Jesus: Schon bald, nachdem er sein Heimatdorf Nazareth verlassen hatte, wollten seine ehemaligen Nachbarn nichts mehr von ihm wissen. "Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf" (Johannes 1,11), weder in Nazareth noch in Jerusalem; er wurde außerhalb der Stadt gekreuzigt. Und warum? Johannes: Weil er aus einer anderen Welt stammte.

Auch wenn wir Evangelischen keine Wallfahrten machen, war unsern Vätern doch wichtig, dass unser ganzes Leben eine Pilgerreise ist: "Nur mit Jesu will ich Pilger wandern… Bis es Abend wird für mich hienieden, und er ruft zur ewgen Heimat hin, bis mit Ihm ich gehe ein zum Frieden, wo sein selger Himmelsgast ich bin" ist eins meiner Lieblingslieder.

Darum Kopf hoch, liebe Leserin, lieber Leser, blicke nicht wehmütig zurück, hin ist hin und ab ist ab. Sondern blicke nach vorn, besser: nach oben, und lass dich nicht von denen irremachen, die dich auf die Gegenwart festnageln wollen, als ob wir keine Zukunft hätten.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner