Monatsspruch Oktober 2021

Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken. (Hebräer 10,24)

Liebe Leserin, lieber Leser,

du kennst vielleicht die Witzfigur vom Beifahrer, der meint der Fahrerin Vorschriften machen zu müssen: "runterschalten, nicht zu weit rechts, Vorsicht Strohhalm!" Wir sind doch nicht mehr in der Fahrschule. Die Frau am Steuer weiß selbst, wie sie sich zu verhalten hat. Und der Mann daneben braucht gar nicht den Überlegenen zu spielen und seine Frau herumzukommandieren. Oder umgekehrt.

Anders war es, als es noch kein Navi gab und man durch eine fremde Gegend fuhr. Da hatte der Beifahrer die Karte und suchte den Weg. Und bei schwierigen Verkehrsverhältnissen, wenn man sich ganz auf den Verkehr konzentrieren muss, ist es heute noch gut, wenn man jemand neben sich hat, das auf die Verkehrsschilder achtet.

Dem Hebräerbrief geht's aber nicht um Autofahrer oder wie man das damals nannte, sondern um das Miteinander in der Gemeinde. Ich habe es als Gottesdienstteilnehmer oft erlebt, dass ich inmitten fremder Leute saß als wäre ich Luft. Aber einmal im Urlaub, da ließ mich meine Nachbarin mit ins Gesangbuch gucken, ein andermal gab mir der Nachbar Zeichen, wann ich aufstehen sollte, und eine Frau bugsierte mich sogar zum Abendmahl. Kleinigkeiten, die ich erfreut bemerkte.

Und natürlich auch im Alltag. Als Schüler begegnete mir auf dem Schulweg immer derselbe Mann. Der schaute stur geradeaus und guckte nicht nach links und nach rechts. Ich machte mir einen Spaß draus, ihn zu grüßen, bis er's merkte und den Gruß erwiderte. Grüßen ist ein Zeichen, dass man den anderen gesehen und auf ihn "achtgehabt" hat. Ebenso kleine "Aufmerksamkeiten", die wir einander schenken.

Früher auf dem Land, wo jeder jeden kannte, war das selbstverständlich. Heute in der Stadt wohnen wir dicht an dicht. Da kapselt man sich eher ab und igelt sich ein. Aber auch da gibt' Ausnahmen: Mich fragte mal eine Frau aus dem Nachbarhaus, was mit dem alten Herrn aus unserm Haus sei, den sähe man gar nicht mehr. Zur Nächstenliebe gehört auch, dass man sich für seine Mitmenschen interessiert.

Und auch, dass wir einen Blick dafür haben, wie der Andere sich fühlt, ob er fröhlich ist oder ob ihn was bedrückt, und dass wir ihn daraufhin ansprechen. Dazu gehört aber Fingerspitzengefühl. Nicht jeder mag es, wenn man direkt fragt: "Hast du was?" Da geht man eher in Abwehrstellung. Und wäre vielleicht doch froh, wenn man drüber reden könnte.

"Auf einander achten", klar. Aber auch "anspornen"? Das klingt nach Leistungsdruck: "Hopp, hopp, nicht schlappmachen, komm, noch ein gutes Werk und noch eins, und noch guter und noch lieber!" Wie ein Reiter, der seinem Pferd die Sporen gibt, damit es schneller läuft.

Andere spornen nicht zur Liebe an, sondern zum Hass. Sie hetzen einander auf und entfachen den Volkszorn, der sich dann in "bösen Taten" entlädt. Einander zur Liebe "aufhetzen", warum nicht? Bedrängte in Schutz nehmen, begütigend die aufgebrachten Gemüter beruhigen, die Wogen glätten. Und wieder und wieder lieben und mit gutem Beispiel vorangehen. Einen Versuch ist's wert. Dazu gehört aber Mut. Und persönliches Format, will nicht sagen: Autorität.

Dürfen oder müssen wir unsre Mitmenschen auf Fehler und drohende Gefahren aufmerksam machen? Die Bibel sagt ja. Wer nicht warnt, macht sich schuldig. Auch dazu gehört Fingerspitzengefühl, Mut … und viel Liebe. "Meckern kann jeder, aber nicht besser machen." Von einem ewigen Meckerfritzen habe ich mir nie was sagen lassen. Aber von meinem verstorbenen Kirchenvorsteher Georg Sauerwein. Der verstand es hervorragend Kritik so anzubringen, dass ich sie annehmen konnte. Weil ich ihn kannte und wusste, dass er's gut meinte. Und meine Mutter lehrte mich "die Wahrheit" nicht dem anderen um die Ohren zu schlagen, sondern "in Liebe zu sagen".

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner