Monatsspruch September 2022

Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit. (Jesus Sirach 1,10)

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Buch Jesus Sirach ist ein merkwürdiges Buch. Es steht in den Spätschriften des Alten Testaments (Apokryphen), ist nach Luther "gut und nützlich zu lesen", aber nicht maßgeblich für unsern Glauben. In der neuen Lutherbibel 2017 stehen viele Verse und ihre Versnummern in eckigen Klammern, so auch unser Monatsspruch. Die Verse in Klammern stehen also nicht in allen Bibeln und sind später eingefügt.

Ob ein Text "echt" ist oder nicht, ist nur Gelehrtengezänk. Wenn ein Spruch gut ist, dann ist's doch egal, wer's gesagt oder geschrieben hat. Und es ehrt jeden, der diesen Spruch zitiert. Aber in diesem Fall widerspricht sich Jesus Sirach selbst: Denn in den folgenden Versen ist nicht von "Gott lieben" die Rede, sondern von der Gottesfurcht: 1,16 "Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang." Das klingt in unsern Ohren, hart, furchtbar: "Angst vor Gott haben ist das vernünftigste." Na so was! Ich dachte immer "Gott ist die Liebe, er liebt auch mich" (und dich vielleicht auch). Muss ich vor jemand Angst haben, der mich liebt?

Aber auch wenn Gott dich und mich liebt, dann nicht auf Augenhöhe, sondern "von oben herab". Er ist uns haushoch überlegen. Er ist kein Kumpel, dem wir vertraulich auf den Rücken klopfen können, sondern wie der Chef aus der Chefetage, vor dem ich Respekt habe.

Ja, das ist das richtige Wort: nicht Angst, sondern Respekt, oder wie man früher sagte: Ehrfurcht. Das ist was anderes als feige Unterwürfigkeit. Sondern Anerkennung der Überlegenheit und Bereitschaft den Anweisungen zu folgen.

Es ist leider ganz in Vergessenheit geraten, dass unser Tun Folgen hat. Als Student hatte ich mal meine Jacke an den Haken im Flur gehängt. Als ich sie wieder anzog, war die Brieftasche weg, Ausweis und Geld auch. "Zur Strafe" konnte ich mir nichts zu essen kaufen und hatte die ganze Woche nichts zu essen als die Reste meines mitgebrachten Brots. Erst am Freitag traf ich einen Bekannten, der mir Geld lieh. So eine Gemeinheit! ICH HAB DAS RECHT, MEINE JACKE IN DEN FLUR ZU HÄNGEN!!! Der Hausmeister hätte aufpassen müssen, dass keiner was klaut. Er war schuld! Stimmt's? Nein, ich war schuld. Ich war unvorsichtig.

Die größere Schuld hatte natürlich der Dieb. Er wurde vermutlich nicht erwischt und konnte sich mit meinen 20 Mark ein schönes Leben machen. Und deshalb gelten außer der ungeschriebenen Regel "Sei vorsichtig" auch das biblische Gebot: "Du sollst nicht stehlen" und die ausführlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs. Jetzt stampf nicht gleich mit dem Fuß auf und schrei nicht "ICH LASS MIR NICHTS VERBIETEN." Dieses Verbot dient doch deinem eigenen Schutz!

In Deutschland (83 Millionen Einwohner) wurden letztes Jahr 1,5 Millionen Diebstähle gemeldet. Da die meisten Diebe mehrmals klauen, gibt's wohl nur ein paar Hunderttausend Diebe. Die meisten Deutschen halten sich an das Verbot. Weniger aus Angst vor Strafe, sondern gewohnheitsmäßig, weil sie so erzogen wurden. Früher hätte man gesagt: "Aus Gottesfurcht", also aus Respekt vor Gott, dessen Gebote ich anerkenne.

Von der Ehrfurcht ist's nur ein Katzensprung bis zur Liebe. "Gott lieben, das ist die allerschönste Weisheit" ist also kein Widerspruch zur Gottesfurcht, wie ich oben behauptet habe. Denn mit Gottesfurcht fängt die Weisheit an, wächst dann über sich hinaus und wird zur Liebe zu Gott und seiner Ordnung.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner