Andacht Oktober 2008

"Du musst nur zu sehen lernen, wie er dich so väterlich führt…" (EG 287,4)

Liebe Leserin, lieber Leser,

hast du schon mal Raupen im Sauerkraut gesehen? Da wimmelt's doch von diesen unappetitlichen Viehchern. Wirklich nicht? Dann hast du die richtige Brille auf. Denn: "Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut" (Wilhelm Busch).

Im Ernst: Raupen mögen kein Sauerkraut und können die Gärungsprozesse darin nicht überleben. Wer aber argwöhnisch ist, wird noch Schlimmeres als Jungschmetterlinge erblicken. Er sieht überall nur das Schlechte. Beispiel: "Die Ehe hat keine Zukunft, denn jede dritte Ehe wird geschieden." Wie furchtbar! Nein: "Jede zweite Ehe wird nicht geschieden!" Wenn sich ein Promi von seiner fünften Lebensabschnittspartnerin trennt, und das passiert ja ziemlich häufig, wird das in den Medien lang und breit bekakelt. Wenn aber zwei Drittel aller Verheirateten sich lange Jahrzehnte die Treue halten, hört man allenfalls bei hohen Ehejubiläen davon, und die finden nur alle Jubeljahr statt. Unsere Wahrnehmung ist also verzerrt: Wir sehen, was von der Norm abweicht, nicht was der Norm entspricht.

Ein anderes Beispiel: "Die Christen sind nur noch eine kleine Minderheit. Die Jugendlichen werden aus der Kirche rauskonfirmiert. Kein Wunder, wenn der Atheismus immer mehr zunimmt." Auch falsch! Richtig ist: Die meisten Westdeutschen gehören einer Kirche an. Die Konfirmierten schicken auch Ihre Kinder in den Unterricht. Die Konfirmation ist seit 500 Jahren immer noch ein Renner. Und der Atheismus nimmt auch nicht zu, sondern eine Handvoll Atheisten meldet sich immer lauter zu Wort. Nach einer neueren Umfrage hält sich die überwiegende Mehrheit der Westdeutschen für religiös. Und schweigt. Die Raupen sitzen also nicht im Sauerkraut, sondern auf der Brille.

Genauso ist auch unsre Wahrnehmung verzerrt, was Glück und Unglück angeht. Wir erfahren in den Medien von einer Unzahl von Katastrophen, Unfällen, Kriegen und Verbrechen. Furchtbar, was die Welt so schlecht ist! Bloß: Wie viel oder wie wenig davon geschieht in unserem eigenen Lebensbereich? Ich ziehe Bilanz in meinem eigenen Leben: Zweimal wurde mir der Geldbeutel und einmal das Fahrrad gestohlen. Einmal das Auto aufgebrochen. Ein Totalschaden mit dem Auto und ein paar harmlose Karambolagen, dazu etwa fünfmal gefährlich gestürzt. Ein Schwelbrand. Einmal das Dach durch einen Fliegerangriff abgedeckt und einmal vom Sturm. Einmal das Bein gebrochen und einmal mehrere Tage im Krankenhaus. Uff, das ist ja eine Menge, hätte ich nicht gedacht. Aber auf 66 Jahre verteilt. Statistisch also jeden 1202. Tag ein schädliches Ereignis, das ist gar nicht der Rede wert.

Auch beim Glauben haben wir eine Brille auf. Wir sehen dadurch nicht, wo der Teufel seine Hand im Spiel hat, sondern wo Gott wirksam ist. Der ist wie die schweigende Mehrheit: Er wirkt in der Stille. Den schädigenden Ereignissen entspricht vielleicht dieselbe Anzahl von Wundern, die ich erlebt habe. Aber das meiste von Gottes Wirken habe ich gar nicht gemerkt: Ist es nicht auch ein Wunder, dass ich immer noch halbwegs gesund bin und überhaupt noch lebe? Ist es nicht auch ein Wunder, dass ich geliebt werde und lieben darf? Ist es nicht auch ein Wunder, dass ich nie "in Versuchung geführt" und immer wieder "vom Bösen erlöst" wurde. (Wozu beten wir denn sonst das Vaterunser?) Das größte Wunder aber ist, wie mich Gott in aller dieser Zeit geführt hat. An den entscheidenden Wendepunkten wusste ich immer genau, was ich zu tun hatte. Mir blieb ja meistens gar keine Wahl.

"Du musst nur zu sehen lernen, wie er dich so väterlich führt…" Setz also deine Argwohnsbrille ab und die Glaubensbrille auf, du wirst staunen.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner