Monatsspruch Februar 2022

Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. (Epheser 4,26)

Liebe Leserin, lieber Leser,

eine Familienweisheit möchte ich an euch weitergeben: Mein Ururopa war Eisenbahner. Er sollte 1861 die Nachtschicht eines jüngeren Kollegen übernehmen, der auf ein Fest wollte. Seine Frau fand das gar nicht gut. "Immer musst du den Anderen ihre Arbeit mitmachen und ich sitze allein daheim." Er versuchte sie zu beschwichtigen: "Komm, gib mir noch einen Kuss." Sie weigerte sich; so ging er in Unfrieden zur Arbeit und wurde beim Aneinanderkoppeln zweier Wagen erdrückt. Die Frau litt schwer darunter und hat ihre Kinder immer ermahnt: "Geht nicht im Streit auseinander."

Es gibt Menschen wie mich, die regen sich leicht auf, sind schnell auf 150 - und regen sich genauso schnell wieder ab. Ich kannte einen, eine Seele von einem Menschen, von dem kriegtest du alles. Aber wenn er mal ihn Fahrt war, kannte er sich selbst nicht mehr, drohte aus der Kirche, Feuerwehr, Rotem Kreuz und jedem Verein auszutreten. Und blieb doch bis zu seinem Tod Mitglied. Wer ihn kannte, nahm ihn, wie er war, weil er auch seine viel besseren Seiten kannte.

Nicht immer geht ein Wutausbruch glimpflich aus. Vater und Sohn stritten sich lautstark, da brach der Vater zusammen: Herzinfarkt. Ein paar Tage später starb auch der Sohn, ebenfalls Herzinfarkt. Und mancher Konflikt endet mit Gewalt. Daher die Mahnung: "Zürnt ihr, so sündigt nicht." Oder noch deutlicher, wie Jakobus 1,20 schreibt: "Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist."

Andere brauchen länger und tragen ihren Zorn noch lange in sich herum. So entsteht aus kurzem Ärger Hass, der noch nach Jahrzehnten spürbar ist.

"Geht nicht im Streit auseinander", mahnte meine Ururoma. Versöhnt euch wieder. Damals hätten sie's tun können, aber nicht immer ist das möglich, zum Beispiel bei längeren Auseinandersetzungen, die sich nicht von heute auf morgen regeln lassen. Und nach längerer Zeit sich aussprechen kann auch unnötig alte Wunden aufreißen. Da helfen bei Gelegenheit auch eine ausgestreckte Hand und ein freundlicher Blick.

Und wenn nicht, kann man doch versuchen zu verstehen, warum der Andere sich so verhalten hat. Denn das erleichtert und hilft beim Loslassen. So ging mir's kürzlich, nach 70 Jahren, mit einem meiner Grundschullehrer, der mich auf dem Kieker hatte. Jetzt weiß ich warum: Ich kleiner Besserwisser hatte ihm mal widersprochen. Also bitte nachträglich um Entschuldigung, Herr Lehrer.

Man vergibt sich ja nichts, wenn man sich entschuldigen oder nachgeben kann. Wie schon der chinesische Philosoph Laozi sagte: "Wer andere besiegt, ist stark. Wer sich selbst besiegt, ist mächtig." Und woher nehmen wir die Kraft zur Selbstüberwindung? Aus der Liebe.

Und woher nehmen wir die Kraft zur Liebe? Liebe kann man nur erfahren durch andere Menschen, zuerst durch die fürsorgende Liebe der Mutter, die einiges auf sich nehmen und ihre eigenen Interessen zurückstellen muss, um ein Kind auf die Welt zu bringen und großzuziehen. Ich kannte einen Strafgefangenen, der hatte Mutterliebe nie erfahren. Er war erst im Heim, dann bei Oma und erst mit einem Jahr bei einer fremden Frau, die ihn geboren hatte. Sein Grundsatz gab mir zu denken: "Warum soll ich auf Andere Rücksicht nehmen, wenn keiner Rücksicht auf mich nimmt?"

Es ist ein weiter Weg von der Grunderfahrung der Mutterliebe über die selbstlose Liebe Jesu bis zur Erkenntnis, dass Gott Liebe ist und dass wir bei ihm Kraft schöpfen können zur Selbstlosigkeit und Selbstüberwindung.

Mit freundlichen Grüßen

Heinrich Tischner